Montag, 27. Oktober 2014

Psycho vertikal

Die Rébuffat-Terray, ursprünglich als Felsroute eröffnet, gilt mittlerweile als eine Art Prüfstein für Mixed- und Gully-Aspiranten. Etwa 500 Meter oder um die 14 Seillängen teils delikate Eis- und Mixedkletterei müssen gemeistert werden, um den an und für sich unbedeutenden Col des Pèlerins zu erreichen. Natürlich geisterte diese gewaltige Tour schon seit längerer Zeit in meinem Kopf herum, aber schlussendlich habe ich mich doch nie an dieses Abenteuer gewagt. Bis zum vergangenen Wochenende, als endlich wieder mal eine Tour mit Peter geplant war. Mit ihm als starken Partner sollte zumindest mal einen Versuch gestartet werden.
Nach einer kurzen, aber gemütlichen Nacht im Refuge Plan d'Aiguille geht es am Samstag Morgen früh los. Der Zustieg über das mit etwa 20cm Pulver bedeckte grobblockige Geröll ist wie erwartet mühsam und kräfteraubend, aber dennoch stehen wir im ersten Morgengrauen am Einstieg der gewaltigen Nordwand der Pèlerins. Das Wetter hält ebenfalls eine negative Überraschung bereit, statt des erhofften 'Grand beau' ist es stark bedeckt und beginnt sogar leicht zu schneien! Und schon bereits wenige Minuten nach Einsetzen des Schneefalls rauschen bereits die ersten Spindrifts die Wand herunter. Immerhin, der Niederschlagsradar verspricht Besserung, und so stechen wir im ersten Tageslicht los. Da der Direkteinstieg zumindest im Dunkeln ziemlich bold ausschaut, wählen wir den 'traditionellen' Einstieg, der etwas dem Eisschlag ausgesetzt ist. Allerdings ist das Gelände wirklich einfach, so im Bereich 45-50°, wir können seilfrei gehen und sind so binnen wenigen Minuten aus der Gefahrenzone draussen.
Bald wird das Gelände aber steiler und felsiger, wir seilen an. Eine erste Seillänge führt nach rechts an einen Stand. Die zweite Seillänge geht dann bereits ordentlich zur Sache: Etwa 65 Meter, bis zu 80° bester Styroporschnee, etwas lästig sind die Spindrifts, die mich im Vorstieg ordentlich einpudern. 
Die dritte Seillänge ist etwas gemütlicher und führt in einen wilden Kessel. Irgendwie kann man sich kaum vorstellen, dass es von hier eine durchgehende Eislinie nach oben gibt...
Weiter geht es zuerst etwa 20 Meter nach oben, von wo ein etwas weniger steiles Schneeband eine Traverse nach rechts erlaubt. Eine Schraube in gutes Eis gesetzt, dann wieder etwa 5 Meter abgestiegen, um so über eine kurze Steilstufe den Stand zu erreichen. Jetzt ist es mal Zeit das Topo zu studieren, welches etwas von sechs Seillängen versprochen hat. Wir haben ja bereits vier Seillängen geklettert - sind wir schon fast oben? Nein, weit gefehlt! Ernüchterung macht sich breit, als wir realisieren, dass dies erst der Zustieg war. Na toll - was erwarten uns da noch? 
Zuerst erwartet uns eine weitere Styroporschnee-Länge, cool zu klettern, insgesamt auch eher gutmütig. Spektakulär ist die nächste Seillänge, die in einem archetypischen Gully beginnt: Eine tief eingeschnittene, kaum ein Meter breite Eisrinne, gut mit Friends an Rissen absicherbar. Vom Geilsten! Nach etwa 20 Meter quere ich nach links, um über einen kurzen Aufschwung an 'Placages' (d.h. Klebschnee) den Stand zu erreichen. Grosses Ambiente!
Zu erwähnen ist noch, dass beide Seillängen deutlich über 40 Meter lang waren - und dennoch, laut Topo haben wir gerade mal die 'erste' der sechs Seillängen bewältigt. Peter startet jetzt in die 'zweite' Länge, laut Topo der Crux. Tatsächlich aber ist die Crux bei den aktuellen Verhältnissen eher gutmütiger als gedacht: Von einer wirklich guten Zwischensicherung (die auch als Stand gebraucht werden könnte) muss man etwa vier Meter an 80° Placages hochhooken, um dann eine akzeptable Zwischensicherung zu finden. Peter jedenfalls steigt souverän an den Stand, ich geniesse die geniale Kletterei im Nachstieg. Dann ist es aber wieder an mir zu übernehmen: Zuerst eine mit Cams ok abzusichernde Styropor-Verschneidung hoch. Das Gelände wird jetzt zwar ein Tick einfacher, aber mit jedem Meter, den ich über die letzte Zwischensicherung steige, steigt auch meine Nervosität. Wo führt das hin? Zurückklettern ist irgendwie keine Option mehr. Nach etwa 10 Meter Eiertanz finde ich eine etwas dicker gewachsene Stelle, wo ich eine 10er Schraube versenken kann. Jetzt steige ich wieder kurz ab, um dann nach rechts über zugeeiste Platten hochzusteigen - notabene ohne Sicherungsmöglichkeit! Phuh... psycho, psycho... Nach etwa 10 Meter ohne Zwischensicherung erreiche ich wiederum eine etwas flachere Stelle, wo sich ein guter Stand an einer 16er Schraube basteln lässt. Hier kreuzt übrigens die 'Beyond good and evil' unsere Route, ich finde aber keinen fest installierten Stand. Im Abstieg werden wir hier einen Abalakov fädeln müssen.
So richtig, richtig bösartig wird es dann aber erst in der nächsten Seillänge, die sich wiederum Peter gibt. Eine Verschneidung, etwa 15 Meter lang, bis zu 90° steil, vorwiegend an 'Placages' zu klettern. Zwischensicherung? Nun ja, ein paar halbbatzige Schüppchen erlauben Cams zu legen, nur stürzen möchte man nicht unbedingt. Peter flucht und eiert, behält aber zum Glück die Nerven. Ein paar lange Minuten und für ihn untypisch kleine Abstände später der erlösende Schrei 'Stand!'. 
Die folgende Länge gebe ich mir wiederum, sie führt über einen zwar ähnlich steilen, aber kürzeren und deutlich besser absicherbaren Fels-/Eisriegel hoch. Als nach bereits etwa 15 Meter einen Stand auftaucht, nehme ich ihn gerne. 
Mittlerweile hat uns dichter Nebel eingeholt, der für die nötige atmosphärische Untermalung der letzten Monsterlänge sorgt. Nach etwa 20 Meter relaxtem Styroporgehacke kommt die erste Prüfung in Form einer Fels-Verschneidung aus dünnem Eis, die aber immer einigermassen gut an Cams links ausen absicherbar ist. Peter lässt den Zwischenstand aus und macht eine delikate Plattentraverse nach links, um wiederum eine vereiste Verschneidung zu erreichen. Diese in recht schöner, eher wieder ein Tick gutmütigeren Eiskletterei hoch zum Stand. Und ja, wir haben ihn erreicht, den berühmten Col. Oder, um es in den Worten von Jon Griffith auszudrücken, "another Cumbrèche reached!". Mitterweile ist es schon halb vier, wir haben also doch gute siebeneinhalb Stunden bis hierher gebraucht. 
Die Abseilerei geht danach plus minus reibungslos, gestaltet sich aber ziemlich endlos... schlussendlich brauchen wir zwei Stunden bis zurück an den Einstieg. Im letzten Tageslicht erreichen wir schlussendlich das Refuge, wo die langersehnte warme Dusche auf uns wartet!

Facts
Col du Pèlerins, Rébuffat-Terray (aka Carrington-Rouse), AS-, Wi5, M4+, R, 500m, etwa 12 SL

Sehr anhaltende Eis- und Mixedkletterei. Obwohl insgesamt ordentlich absicherbar, müssen mehrere längere Runouts in teils eierigem Gelände gemeistert werden. Nur geniessbar, wenn man eine gewisse Reserve in dieser Art Kletterei hat!

Material: Das volle Rack, und zwar insbesondere die ganz kleinen Cams (C3 00,0,1,2) bis und mit dem gelben 2er. Dazu Keile, evtl. Schlaghaken, Zackenschlingen, und etwa 8 Schrauben, primär 10er und 13er.

Nach diesem grossen Tag brauchen wir am Sonntag natürlich etwas Leichter-Verdauliches. Und was wäre besser geeignet als einen der bekannten Gullies in der Aiguille Midi Nordwand zu probieren? Die haben ultrakurzen Zustieg und garantierten Spassfaktor. Zudem erlaubt die Zeitumstellung bersteiger-untypisches Ausschlafen! 
Etwas weniger gemütlich gestaltet sich das Aussteigen auf der Midi Bergstation, die Bahn voller Alpinisten, wir machen einen etwas nonchalanten, kurzen Sprint, um immerhin als zweite Seilschaft die Abseilstelle an der Brücke zu erreichen. Hinter uns bildet sich innert Sekunden eine ziemliche Traube an Bergsteigern. Welcome to Chamonix!
Den Einstieg der anvisierten 'Vent du dragon' erreicht man mit sechsmaligem Abseilen, im Gegensatz zu gestern nicht an halb aufgelösten Schlingen und Normalhaken, sondern an bombenfesten Bohris. 
Die die Seilschaft vor uns einen anderen Gully anvisiert, sind wir tatsächlich als Erste am Einstieg, und starten unverzüglich. Und bald wird klar, dass hier doch ein anderer Wind weht als gestern: Gut ausgehackt und perfekt an Schrauben, Schlingen und Cams absicherbar. Die ersten zwei Längen sind jedenfalls problemlos. Spektakulär ist dann die dritte Länge: Eine perfekte Eis-Verschneidung, gefolgt von einer coolen Mixed-Stelle, die von weitem trocken ausschaut, aber mit unerwarteten Glasuren aufwartet. Vom Feinsten!
Die darauf folgende Seillänge ist etwas einfacher, aber kaum weniger schön: Steile Zungen aus dünnem Eis, ein, zwei kurze Felsaufschwünge, immer super absicherbar, die reinste Freude! Einen Stand finde ich allerdings nicht, hingegen einen super Zacken in einer kleinen Grotte für einen Schlingenstand. 
Die letzte Seillänge ist nochmals unerwartet biestig, sie führt durch eine spektakuläre Rauhreif-Landschaft und zuletzt einen Stemmkamin auf den Grat.
Nun gilt es noch über den Cosmiques-Grat die Midi-Bergstation wieder zu erreichen. Einmal mehr ein super Tag in diesem schönsten Gebirge der Welt!

Facts:
Aiguille du Midi, "Le vent du dragon", SS-, M4+, 5 SL

Ein wunderschönes, modernes und sehr abwechslungsreiches Gully. Die Kletterei ist deutlich gutmütiger als in der Rébuffat-Terray! Geklettert wird hier im Verdon-Prinzip, zuerst abseilen, dann wieder hochklettern. Deshalb sollte man schon auch wirklich hochkommen...

Material: Normales Set Cams bis 2, Zackenschlingen, etwa 6 Eisschrauben (insbesondere kurze).

Montag, 13. Oktober 2014

Ein Klassiker zum Entdecken

... ist die "Wohlgenannt-Gedenkführe" an der Drusenfluh, die Sophie und ich an diesem Sonntag anpeilen. Zwar 'nur' ein Plan B, aber angesichts des durchzogenen Föhnwetters eine ganz passable Idee. Ähnlich wie bei der Bodin-Afanasieff fängt auch heute das Abenteuer schon auf dem Zustieg an - respektive sogar noch vorher. Denn irgendwie schaffe ich es, das Mobility-Fahrzeug auf dem zerfurchten Strässchen kurz vor dem Parkplatz auf dem Grüscher Älpli so unglücklich auf einen Stein zu setzen, dass tatsächlich der Pneu platzt (ok, ich stehe dazu, ich bin halt ein Mobility-Fahrer). Jedenfalls befürchten wir schon das vorzeitige Ende des Klettertages, aber zum Glück hatte ich das Vergnügen, schon im Frühling eines Radwechsels beiwohnen zu können, so dass wir zumindest mal den Versuch machen, das Rad selber zu wechseln. Und siehe da, mit etwas Anleitung studieren klappt es tatsächlich, und eine gute halbe Stunde später als geplant kann es jetzt doch noch losgehen!
Bald erreichen wir den Einstieg, ein gut sichtbarer Bolt erleichtert das Finden der Route. Sophie startet in die erste Länge, mit 4b ein gutmütiger Start. Wobei, schon nach wenigen Metern wird klar dass die 'angedrohte' Sanierung der Route zurückhaltend ausgefallen ist: Auf 40 Meter gerade mal zwei Bolts. 
Die zweite Länge checkt bei 6a ein. Eigentlich ein Grad, bei dem ich nicht viel studieren müsste - weit gefehlt. Zum zweiten Bolt darf schon mal ein paar Meter über den Haken geklettert werden. Aber phuh, der Aufschwung hat es wirklich in sich! Plattiges Anstehen, Schnappen von schlechten Auflegern, halt Rätikon vom Feinsten. Mir kommts eher wie 6b vor. Danach folgen noch etwa 10 leichtere Meter bis zum Stand, ohne Bolts, so dass auch noch die Cams zu Ehren kommen.
Wirklich deftig wird es dann in der dritten Länge. Nominell 5c, eigentlich ein lösbares Problem. Nur, es ist halt eine senkrechte Rissverschneidung, bis auf eine total vermoderte Schlinge, die kaum das Eigengewicht des Express hält, vollständig clean. Zum Glück frisst der Riss die grossen Nummern wirklich gäbig, insgesamt investiere ich einen 1er, 2er und 3er Cam auf dieser Länge. Im Bild oben ist Sophie am Ausstieg vom Riss.
Es folgt eine moderatere und etwas unschöne vierte Länge, abgesichert mit ein paar mittelprächtigen Normalhaken. So richtig gut ist dann wieder die fünfte Länge: Eine plattige 5b-Traverse in traumhaften, wasserzerfressenen Fels (was eher ungewöhnlich ist fürs Rätikon). Auch hier wird vorwiegend an Normalhaken abgesichert, wem dies zu windig ist, der darf auch wieder selber legen. Hier Sophie im Vorstieg:
Die sechste Länge ist eine weitere Traverse, etwas schwieriger als die vorherige. In der Schlüsselstelle gleich zu Beginn ist man wirklich froh, den Normalhaken hängen zu können. Der nachfolgende Move ist die Crux, bei einem nicht so sicheren Nachsteiger sollte man unbedingt noch einen Cam legen, obschon das Gelände danach leichter wird, ansonsten dieser einen Giga-Pendler macht. Fertig ist der Spass noch nicht, es folgt eine mühsame, aber irgendwie auch coole und vor allem sehr ausgesetzte Traverse auf einem fast überhängenden Gras-Balkon.
Anzumerken ist noch, dass ein Rückzug von diesem Stand aus äusserst mühsam wäre, weil man doch zwei Seillängen gequert ist. Also besser nix anbrennen lassen...
Es folgt mit 5c+ A0 (6c) rein nominell die Schlüssel-Länge. Ich versuche das Monster zuerst freizuklettern, aber da gibts wirklich nichts zu holen für mich! Anhaltend super-technisch, ich kann mir kaum vorstellen wie man die Züge machen könnte. Dazu kommt, dass zwar etwa alle 1.5 Meter ein Haken steckt, über die Hälfte davon sind aber so dünne Häkchen in Bohrlöcher, die wohl wirklich nur zum Techen gedacht sind, aber sicher nicht zum Stürzen.
Nach dieser Aufregung folgt eine leichtere 3er Länge, bevor es wieder zur Sache geht. Eine grosse Piaz-Schuppe, wobei hier (leider) doch ein paar Bolts stecken, obwohl man perfekt selber legen könnte. Zu sagen noch, dass auch diese Seillänge in bestem Fels wirklich super zu klettern ist. Sodann erreichen wir das Wandbuch, und siehe da: Jahrgang 1973, also immer noch von den Erstbegehern! Mittlerweile ist es etwa zu zwei Drittel gefüllt, was einiges über die 'Popularität' der Route aussagt.
Danach folgen noch drei leichtere Längen, eine coole 4b mit interessantem Stemmkamin, eine etwas leichtere, dafür kaum absicherbare 3er-Länge, und noch eine auch eher leichte 4er Länge zum Ausstieg. Nach knappen sechs Stunden stehen wir am Ausstieg, hinter uns eine der besten Klassikern, die ich schon geklettert habe!
Wobei, der Abstieg ist auch nicht ganz geschenkt, man muss zuerst ein paar Meter abklettern (II), dann nach Westen wieder aufsteigen (ebenfalls etwa II). Hier befindet sich eine Abseilstelle, und mit 50m erreicht man ein Grasband. Jetzt steigt man über deutlich einfachere Schrofen ab, und erreicht den Parkplatz nach knappen anderthalb Stunden.

Facts:
Drusenfluh, "Wohlgenannt-Gedenkführe", 6a A0 (12 SL)

Ein selten begangener Klassiker, der sehr zurückhaltend saniert wurde und jetzt eine tolle Klettertour in bestem Fels darstellt, bei der die Cams nicht nur fürs Foto an den Gurt gehängt werden dürfen! 

Material: 12 Exen, vollständiges Set Cams 0.5-3, vollständiges Set Keile.