Mittwoch, 29. August 2012

Bruch am Bietschhorn

Das Bietschhorn ist eine von weitem äusserst ästhetische Pyramide, die sich aus der Nähe als gigantischer Trümmerhaufen entpuppt. Dies ist kein Geheimnis, darum stand dieser Berg auch eher unten auf meiner Wunschliste. Mein Vater hingegen hatte den grossen Wunsch, diesen Berg ein Mal in seinem Leben noch zu besteigen. Und da es offensichtlich nicht einfach ist, Bergführer für diese Unternehmung zu motivieren (verstehe ich im Nachhinein auch), fiel mir die Entscheidung nicht schwer, mit ihm diese Tour zu machen. Etwas Recherche hat auch schnell gezeigt, dass der Ostsporn der wohl beste Aufstieg vermittelt. 
Als erstes Hindernis gilt es, einen der längsten Hüttenaufstiege der Schweiz zu bewältigen. Zu Beginn führt der Weg einer Suone entlang.
Später steigt der Weg steil an und überquert mehrere Male die grossen Bergbäche. Allerdings sind die Stege einwandfrei, anders als auch schon geschrieben.
Wir nehmen den Weg gemütlich und erreichen nach fünfeinhalb Stunden die Baltschiederklause. In der urchigen Hütte wird man mit einem Tee begrüsst, eine nette Geste, die man in anderen Gebieten nicht erlebt. 

Am nächsten Tag starten wir um zwanzig nach Vier. Mit uns am Start ist noch eine Vierergruppe, zudem attackiert eine Seilschaft den Nordgrat. Im Licht der Stirnlampe geht es auf dem recht ausgesetzten Weg Richtung Gletscher, Katzenaugen erleichtern die Wegfindung. Der Gletscher ist grösstenteils aper und eher auf der harmlosen Seite, die wenigen grossen Spalten können problemlos umgangen werden. Etwas spannender gestaltet sich der Übergang vom Eis auf den Sporn; wir versuchen es im untersten Teil, direkt oberhalb eines riesigen Schrundes. Geht ganz gut, nur gelangt man danach in mühsamstes Geröll. 
Ein weiterer schöner Tourentag kündigt sich an...
Wir kämpfen uns durch das lose Geröll und erreichen bald festeres Gelände an der Gratkante. Allerdings muss man auch hier permanent aufpassen, nicht Steine zu lösen, die nachfolgende Seilschaften treffen könnten.
Tolles Ambiente in der frühen Morgensonne!
Im unteren Teil des Sporns ist das Gelände noch nicht so steil und besteht meistens aus mehr oder weniger gut verfestigtem Geröll. Wir kommen gut voran.
Kurz bevor sich der Grat aufsteilt, wird es zum ersten Mal etwas spannender. Der Grat ist hier scharf und relativ ausgesetzt, es gilt, mehrere Zacken zu überklettern oder auf kleinen Bändern zu umgehen. Schwierig ist es zwar nie, erfordert aber dennoch einen gewissen Spürsinn für den einfachsten Weg.
Hier kommt auch schon die erste Schlüsselstelle, ein mit Bohrhaken abgesicherter Aufschwung im Grat. Klar, man könnte sich irgendwie rechts 'herumbescheissen', aber es ist schöner und eleganter, direkt über den Zahn zu steigen. Schliesslich sind wir auch ein bisschen zum Klettern hier.
Jetzt wird der Grat deutlich steiler, ohne jedoch schwieriger zu werden. Vom Charakter her kompakt und gutgriffig direkt auf der Kante, und äussert lose in den Flanken. Die Kraxelei ist genussvoll, auch Hannes gefällt es.
Plötzlich werden wir aufgeschreckt durch ein Poltern, durch das Couloir auf der rechten Seite ergiesst sich eine regelrechte Gerölllawine. Gut, hier würde wohl eh niemand hochgehen, aber trotzdem, kein schöner Anblick, den Bergen beim Vergehen zuschauen zu müssen. Der Grat ist zum Glück sicher vor spontanem Steinschlag, hingegen muss man aufpassen, nicht selber Steine zu lösen. So geschehen bei den vier Thurgauern, der Stein, welcher die vorangehende Seilschaft ausgelöst hat, trifft den Vordermann der hinteren Seilschaft. Glücklicherweise bleibt es bei einer Prellung (hoffe ich zumindest), eine Schmerztablette erlaubt ihnen das Weiterklettern. 
Im oberen Teil macht der Grat eine charakteristische Linkskurve. Wer meint, hier sei es schon geschehen, dem ist nicht so! Vielmehr steilt er sich noch einmal auf und wird kompakter. Hier befindet sich die nominelle Schlüsselstelle der Tour, ein mit Bohrhaken abgesicherter Vierer. 
Wobei, es muss schon auch gesagt sein, mit Chamonix-Vierern hat das hier nicht viel zu tun, schlussendlich muss man, ein, zweimal kurz zupacken und schon ist man oben. Und wahrscheinlich könnte man auch hier die schwierige Stelle umgehen.
Jedenfalls kommt auch Hannes problemlos hoch, und wir erreichen leichteres Gelände. Über grosse, teils lose Blöcke kraxeln wir über den obersten Teil der Südost-Grates. Ein kurzer, horizontaler Grat führt schliesslich zum Gipfelkreuz. Die Mühen werden durch eine tolle Aussicht vom Bernina bis zum Mont Blanc belohnt!
Aber Achtung, beim Bietschhorn gilt, dass die Tour erst zu Ende ist, wenn man wieder den Gletscher erreicht hat! Als Abstieg wählen wir den Westgrat, er ist etwas einfacher und führt, im Gegensatz zum Nordgrat, via Bietschhornhütte direkt ins Tal. Der Westgrat ist nur gerade im obersten Teil kompakt und schwierig, der grösste Teil des Grates besteht aus grossblockigem Geröll. Man kann hier wohl viel Zeit vertörlen, wenn man sich an die Kante hält, hingegen kommt man schnell voran, wenn man die Wegspuren in der Südflanke benutzt.
Jedenfalls brauchen wir gerade mal zweieinhalb Stunden vom Gipfel bis zum Gratfuss. Hier packen wir das Seil ein. Allerdings ist man noch nicht im Tal! Nein, vielmehr queren wir zuerst horizontal über sterbende Gletscher bis zum Bietschjoch.
Dann folgt noch ein kniekillender Abstieg ins Tal. Es gibt wohl wenige Berge, die so wenig Luftdistanz zwischen Gipfel und Talort haben. Nach 2500 Höhenmeter Abstieg fühlen wir uns wie nach nach einem Besuch in der Waschmaschine. Da mag auch die Käseschnitte und der halbe Fendant nicht mehr viel zu helfen...

Facts:
Bietschhorn, Ostsporn, S, IV, 4a
Der Ostsporn vermittelt den wohl schönsten und auch sichersten Aufstieg auf das Bietschhorn. Man darf deswegen aber keinen "Chamonix-Granit" erwarten, vielmehr ist der Sporn einfach etwas weniger brüchig als die anderen Grate. Schlussendlich besteigt wohl niemand das Bietschhorn wegem dem Aufstieg, sondern halt wegem dem Bietschhorn. Der Westgrat ist ein vernünftiger Abstieg, der mit der richtigen Strategie und der optimalen Wegfindung effizient bewerkstelligt werden kann.
Material: Ein paar Zackenschlingen, etwa 4 Expresse, Keile und Friends sind eigentlich nicht nötig. Ein bis zwei Eisschrauben und ein guter Eispickel, falls der Übergang vom Gletscher auf den Sporn Probleme bereitet.

Dienstag, 21. August 2012

Mittellegi mal anders

Der Mittellegi-Grat am Eiger ist einer der grossen Klassiker im Berner Oberland, und gehört eigentlich in den Palmares eines jeden Alpinisten. Auch Corina hat schon lange von dieser Tour geträumt, und als sich eines der wenigen Schönwetter-Wochenenden ankündigt, war es endlich soweit. Eine telefonische Anfrage auf der Mittellegi-Hütte bestätigt allerdings, dass die Tour tatsächlich sehr beliebt und infolgedessen die Hütte total ausgebucht ist. Was tun? Nachdem ich vor einer Woche an der Verte erfahren habe, dass es gar nicht so ein grosses Problem ist, das Biwakmaterial über einen hohen Berg zu tragen, steht der Ersatzplan schnell fest: Anstatt wie üblich am ersten Tag in die Hütte und am nächsten Tag über den Eiger und die Eigerjöcher ins Jungfraujoch zu gehen, werden wir am ersten Tag gemütlich in die Hütte und gleich weiter auf den Eiger steigen, und dann ein Biwak im nördlichen Eigerjoch machen. Am zweiten Tag steht dann nur noch eine kurze Etappe an. 
Gesagt, getan. Und weil Bergsteigen ja auch Genuss sein soll, nehmen wir nicht am frühen Morgen den ersten Zug, sondern fahren bereits am Vortag auf die Kleine Scheidegg. Vom Eiger-Trail aus geniesst man einen eindrücklichen Blick in die Eiger-Nordwand, wo ich vor wenigen Tagen zusammen mit Chrigu die Freakonomics 7a+ geklettert habe.
Nach einem gemütlichen Zmorgen auf der Sonnenterrasse vom Berghaus Kleine Scheidegg nehmen wir den neun Uhr Zug. Bald sind wir im Stollen, der uns zur Eismeer führt.
Ähnlich wie bei den Touren um Chamonix gilt auch hier, von 0 auf 100 in zehn Minuten! Man steigt über ein Bändchen ab und seilt dann 20 Meter über den Bergschrund auf den Gletscher ab. Auf dem Challifirn wartet eine eindrückliche Riesenspalte, die aber dank einer gäbigen Spur einfacher überquert werden kann als gedacht.
Dann folgt auch gleich die erste Kletterstelle, eine mit Bohrhaken abgesicherte Seillänge im vierten Grad. Geht aber schlussendlich auch mit den Grossen ganz gut.
Danach wird das Gelände zwar einfacher, aber irgendwie auch deutlich mühsamer. Das Band ist zwar noch mehr oder weniger gut mit Steinmännchen markiert, aber irgendwann verliert sich dieses in einer steileren Wand. Jetzt muss man diagonal ansteigen, es gibt dutzende von kleineren Wegspuren, die sich alle verlieren. Prompt verpassen wir den besten Weg und stehen unversehens in unlustigem Gelände. Zum Glück ist es aber nur noch zwei Seillängen, bis wir den Grat erreichen, etwa 100 Meter von der Hütte entfernt. Nach dem Gschludergelände freuen wir uns jetzt auf schöne Gratkletterei.
Zuerst ist der Grat noch nicht so steil, über kürzere Aufschwünge geht es flott voran. Die Kletterei ist eigentlich ganz hübsch, wären da nur nicht...
... diese unmöglichen Fixseile! Man kann sie problemlos auslassen, sie sind auch nicht unbedingt dort angebracht, wo es am schwierigsten wäre. Vielmehr kommen sie einem halt in den Weg, und stören massiv das Landschaftsbild.
Hier ein Blick auf den oberen Teil des Mittellegi-Grates. Im Bild rechts ist das klettertechnische Highlight des Aufstiegs, frei geklettert liegt die Schwierigkeit wohl im unteren fünften Grat, der Fels ist solide. 
Nach dem grossen Turm folgt eine längere Fixseil-Hampelpassage auf der Nordseite, auch hier klettert man besser möglichst viel frei, ist auch weniger anstrengend für die Arme.
Danach wird der Grat flacher, ohne allerdings wesentlich einfacher zu werden. Vielmehr folgen immer mal wieder kürzere Aufschwünge, die man überklettern muss. Schlussendlich erreichen wir eine grosse Plattform, die den Übergang in den Firnteil vermittelt. Während bis hierhin der Aufstieg von den Temperaturen her sehr angenehm war - ich bin alles im T-Shirt geklettert - zahlen wir hier natürlich etwas für unsere ungewohnt späte Zeit. Der Firn ist aufgeweicht, die Traversen teilweise etwas heikel. Zum Glück hat es aber eine super ausgetrampelte Spur.
Dann endlich stehen wir auf dem Gipfel des Eigers. Um Abends um fünf Uhr natürlich völlig alleien - abgesehen von Gleitschirmfliegern, die um den Gipfel segeln! 
Gemütlich machen wir uns auf den Abstieg, wissend das es gar nicht mehr so weit ist! Der Südgrat ist zuerst einfach, wird dann aber bald steiler, und man muss mehrere Male 15-25 Meter abseilen.
Über zuletzt etwas unlustiges Gschludergelände erreichen wir das nördliche Eigerjoch. Und hier hat es tatsächlich auch eine flache Stelle mit weichem Kies, ideal für einen Biwakplatz! Corina stellt ihre Mauerbau-Kenntnisse zur Verfügung und verbessert den Schlafplatz, während ich mich der Küche widme. Am wärmsten Tag (Jungfraujoch neue Rekordtemperatur 12.8°) auch um halb acht Uhr abends im leichten Pulli! Im Hintergrund das 'Projekt' für morgen, die Überschreitung der Eigerjöcher.
Ein wunderbarer Abend in einer wilden Berglandschaft. So muss Bergsteigen sein!
Nach einer warmen Nacht erwachen wir am nächsten Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen. Wie Ameisen krabbeln die Seilschaften bereits Richtung Eigergipfel, während wir noch den Kafi schlürfen. Schliesslich geht es auch für uns weiter.
Ein erstes, teils vereistes Schneefeld muss traversiert werden. Das zweite Firnfeld ist etwas weniger steil, und führt zum klettertechnisch interessantesten Teil des Grates.

Nach dem Firngrätchen folgt ein cooler, kurzer Gully, gefolgt von einem steilen Aufschwung. Laut Führer checkt die Stelle bei IV+ ein, das ist allerdings definitiv nicht Cotation Chamoniarde. Viel mehr als einen Dreier würde ich hier nicht veranschlagen, denn die Kletterei ist zwar den Umständen entsprechend steil, aber wirklich sehr grossgriffig.
Nach diesem Aufschwung legt sich der Grat zurück, schlussendlich zieht es sich dann aber noch, bis man endlich den Firn erreicht. Ein, zwei sorgfältige Schritte, dann erreichen wir den Gletscher. Und damit sukzessive auch wieder die Zivilisation. 

Facts:
Eiger, Mittellegi-Grat, S, IV, 4+

Einer der grossen Klassiker im Berner Oberland, der den wohl besten und zugänglichsten Aufstieg auf den Eiger vermittelt. Die Kletterei ist anhaltend, aber nie schwierig, und viele Stellen sind mit Fixseilen zugemüllt. Im Hüttenzustieg und im Südgrat ist Trittsicherheit im schuttigen T6-Gelände erforderlich. 
Begeht man wie wir den Mittellegi-Grat als Nachmittagstour mit Biwak, hat man den Vorteil, allfällige Staus und Gedränge zu vermeiden, dafür ist halt der Rucksack etwas schwerer und der Firn am Gipfel des Eigers schlechter. Den Mittellegi als Tagestour mit Abstieg über die Westflanke würde ich nur ausgewiesenen Liebhabern von Steilschutt empfehlen.

Material: 50m Seil, etwa 6 Expresse (um längere Strecken am gestreckten Seil parallel zu klettern), ein paar Zackenschlingen, evtl. ein stark reduziertes Set Klemmkeile und Friends, zwei Eisschrauben.

Samstag, 11. August 2012

Aiguille Verte Traverse


Avant la Verte on est alpiniste, à la Verte on devient montagnard
- Gaston Rébuffat

Ob ich in den letzten zwei Tagen wirklich 'Bergler' geworden bin, oder nicht der Städter geblieben bin, den ich schon vorher war, ist mir nicht ganz klar. Klar hingegen ist, dass die Aiguille Verte, bekannt als schwierigster 'richtiger' Alpen-Viertausender, ganz oben auf der Wunschliste eines jeden ambitionierten Alpinisten steht. Und eben diese formschöne Pyramide war das Ziel von diesem Chamonix-Trip. Ursprünglich allerdings nicht über den Grands-Montets-Grat, sondern, ganz ambitioniert, über die sogenannte 'Grande Traverse', d.h. via Drus. Aber beim Bergsteigen kommt es erstens meistens anders, und zweitens als man denkt. Doch hier die ganze Geschichte. 
Angesichts des stabilen Hochs können Peter und ich bedenkenlos etwas Zeit in eine optimale Akklimatisation investieren. Und in Chamonix geht dies am besten bei einer Klettertour auf der Aiguille Midi. Angesichts von mindestens drei wartenden Seilschaften am Einstieg der Rébuffat fällt uns die Wahl nicht schwer: Der Cosmique-Sporn soll es sein, ebenfalls via eine Rébuffat-Route. Insgesamt sechs Seillängen sind zu klettern, die Schlüssel-Seillänge checkt bei 5c ein und bietet steiles, henkliges Gelände in bestem Fels.
Ebenfalls wunderschön sind die beiden letzten Seillängen im oberen vierten Grad. Der Cosmiques-Grat, welchen dann als Abschluss noch begangen werden muss, geht auch ganz ordentlich von der Hand. Um die Akklimatisation noch wirksamer zu machen, trinken wir das Bier nicht unten in Chamonix, sondern oben im Gipfelrestaurant.
Facts:
Cosmiques-Sporn, "Rébuffat", S+, 5c

Hübsche Klettertour mit einer gar nicht so einfachen Schlüsselstelle, gute Ausweichtour bei viel Andrang an der Midi Südwand. 
Material: Set Keile und Friends bis Nr 2.

Der erste Dämpfer folgt dann später im Office d'Haute Montagne in Chamonix, wo wir noch die letzten Infos über unsere geplante Route einholen wollen. Hochgezogene Augenbrauen, Kopfschütteln und ein "these guys are happy to rescue you" (mit Wink auf den PHGM-Typ) ernten wir, als wir unser Tourenziel nennen. Einige Biere später beschliessen wir, trotzdem mal am nächsten Tag in die Charpoua-Hütte hochzusteigen.
Nun ja, als die Drus zum ersten Mal sichtbar werden, ist die Motivation noch maximal. Als uns dann aber zwei triste Franzosen entgegenkommen, die meinen, der Charpoua-Gletscher zum Einstieg der Drus-Traversierung sei unpassierbar, wird das Gepäck grad mal gefühlte 10kg schwerer. Wir steigen aber trotzdem noch hoch bis zur Hütte. "C'est suicidäär" - dies die trockene Bemerkung des Hüttenwartes, mit einem schadenfrohen Grinsen vorgetragen, das mich etwas an Garfield erinnert, der dem Hund einen Streich spielt. Nach kurzer Lagebesprechung beschliessen wir, lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach zu haben, nicht Stunden in einem heiklen Gletscher zu verschwenden, sondern gleich wieder abzusteigen, um wenigstens die beiden nächsten Tage voll auszukosten. Und dies war dann die Geburt des Planes, die Verte über den Grands-Montets-Grat zu besteigen.

Der Grands-Montets-Grat ist einer der vier grossen Grate an der Verte, trennt den Nant-Blanc Bassin vom Argentière-Kessel, und zieht sich von der Bergstation der Grands-Montets Seilbahn in mehreren wilden Türmen hoch zur Gipfelkalotte der Verte. 
Er ist nicht sehr oft begangen, man findet relativ wenige Infos, was aber gar nichts bedeuten muss. Besonders interessant ist, dass ein "Wandbiwak" vor der Gipfelkalotte praktisch obligatorisch ist, dies, weil es keine Hütte in der Nähe hat. Und so befindet sich halt eben ein Schlafsack und Daunenmätteli im etwas schweren Gepäck.
Um sieben Uhr morgens noch ein letzter Kaffee und Croissant in Chamonix, dann geht es mit der ersten Bahn hoch auf Grands-Montets, wo wir um 8:30 starten. Zusammen mit uns am Start sind noch mindestens drei andere Seilschaften. Hoffentlich hat es genug Platz für so viele Leute am Biwakplatz! Der erste Teil der Tour spielt sich in klassischem T5-6 Gelände ab: Man traversiert in brüchigem Fels auf der Westseite. Nicht so der Hit. Aber hier zahlt sich eben die Erfahrung aus, welche wir uns auf vielen Hochtouren im Walliser- oder Bernerbruch angeeignet haben. Wir gehen ohne Seil, und haben nach kurzer Zeit die anderen Seilschaften bereits weit hinter uns gelassen. Eine gute Spürnase zählt hier definitiv mehr als Klettertechnik!
Als Faustregel gilt, nie zu hoch zu gehen, und unbedingt beim tief eingeschnittenen Couloir die 20 Meter absteigen. Sobald man einen Friend oder Keil setzen muss, ist man garantiert falsch.
Schöner wird es bei der ostseitigen Traverse der Pointe Farrar in bereits wesentlich soliderem Fels im dritten Grad.
Die richtige Kletterei beginnt in der Scharte vor der Aiguille Carrée. In zwei steilen Seillängen im vierten Grad, über teils vereiste Risse, erreichen wir den Gipfelgrat. Eine weitere schöne Seillänge führt über die Westseite auf den Gipfel der Carrée. 
Vom Gipfel erreicht man die Scharte zwischen Pointe Ségogne und Aig. Carrée mit zweimaligem Abseilen und Abklettern. Jetzt wird das Gelände nochmals ernsthafter, ein ansprechender Mix aus solidem Fels, gutem Eis und Trittschnee erwartet uns. Wir montieren die Steigeisen und queren in den Gully, welcher auf den Grat der Ségogne führt. Der Gulli hat bestes Schnee-Eis, wartet mit einer Steilheit bis zu 60° auf, und lässt sich perfekt an den Rändern mit Klemmgeräten absichern. Mein Cobra, zum ersten Mal seit der Fil a Plomb wieder im Einsatz, beisst sich freudig ins Eis.
Mittlerweile ist es 12 Uhr, und wir beginnen langsam mit dem Gedanken zu spielen, das Biwak am Col du Nant Blanc auszulassen und gleich zum Gipfel der Verte durchzusteigen. Allerdings, hier ist die Kletterei noch nicht fertig, im Gegenteil!
Es folgen drei Seillängen in teilweise grimmigen, kombiniertem Gelände auf der NE-Seite der Ségogne. Die Schwierigkeiten übersteigen allerdings nirgends den vierten Grad.
Laut Eberlein müsste man die drei Türme auf der Ostseite umgehen. Die Umgehung ist aber im Gelände nicht offensichtlich, und der super Fels lädt geradezu ein, die Türme zu überklettern. Dies geschieht in zwei bis drei weiteren Seillängen, teils auf der Ost-, teils auf der Westseite der Türme. Bald erreichen wir die Scharte vor der nominellen Schlüsselstelle, der Platte im Grad IV+ (Cotation Chamoniarde). Die Platte ist wirklich eine Platte, mit den Kletterfinken wärs einfach, mit den 'Schweren' natürlich etwas diffiziler. Mit etwas Tricksen klappt es aber  ganz ordentlich, man erreicht bald einen gut absicherbaren Riss rechts.
Die nächste Seillänge ist etwas einfacher, wartet aber mit einem grandiosen 'Rateau Chevre', einem nicht absicherbaren Piaz an der Kante, auf. 
Auch bei der letzten Seillänge ganz hoch auf die Gipfelnadel muss nochmals beherzt auf die Kriställchen gestanden werden. Auf der Rückseite führt zweimaliges Abseilen (inklusive Seilverhänger) zum Col du Nant Blanc. Es ist viertel nach drei, und angesichts der tief eingeschneiten, wenig einladenden zwei! Biwakstellen (für mindestens acht Leute) steht unser Entscheid fest. Wir ziehen durch!
Ein kurzer, scharfer Firngrat führt auf die grandiose, mit wilden Seracs bespickten Gipfelkalotte.
Peter legt ein superangenehmes Gehtempo vor, ohne gross ausser Atem zu kommen, marschieren wir die verbleibenden 350 Höhenmeter zum Gipfel der Verte hoch in perfektem Trittfirn. Immer wieder gerate ich ins Staunen ob der bizarren Gletscherszenerie hoch oben über dem Arve-Tal. Fast wie in im Himalaya!
Schliesslich erreichen wir um 16:20 den Gipfel der Verte. Was für ein Hochgefühl! Kein Wind weht, um uns die schönsten Gipfel der Alpen.
Allerdings wäre die Verte eben nicht die Verte, wenn man jetzt einfach den Kopf ausschalten könnte. Nein, vielmehr hat man gerade eine Hochtour beendet, und jetzt beginnt die nächste, nämlich der Abstieg. Das Whymper-Couloir ist um die Tageszeit natürlich keine Option, und mir ist der Gedanke, in dieser Riesenrutschbahn mit Felsblöcken Kegeln zu spielen, sowieso nicht sympathisch. Warum aber haben eigentlich alle Bergsteiger solchen Respekt vor dem Moine-Grat im Abstieg? Wir sind gespannt dies herauszufinden.
Der Abstieg beginnt ganz gemütlich über einen kurzen Firngrat, der bei einer ersten Abseilstelle endet. 1x25 Meter abseilen führt wieder in den Firn. Über eindrückliche Firnschneiden, gerahmt von roten Felsen, geht es weiter. Leider holt uns hier der Nebel ein. 
Im Bild oben befindet sich eine nächste Abseilstelle am kleinen Zahn links, man darf auf keinen Falle nach links abseilen, sondern vielmehr nach rechts, zurück auf den Grat. Es folgt eine weitere Kombi-Passage in Fels und Schnee.
In der Folge hält man sich immer etwas unter dem Grat auf der Talèfre-Seite. Teilweise eindrücklich steile Firnpassagen wollen gemeistert werden. Zum Glück kann man immer problemlos mit Schlingen und Klemmgeräten sichern.
Irgendwann kommt man zu einem kleinen Col, wo rechts ein Kamin senkrecht abfällt. Den folgenden, den Grat versperrenden Block traversieren wir rechts auf einem abschüssigen Band. Und weiter geht es, immer dem Grat entlang, über teils eindrückliche, steile Firnfelder.
Kurz danach erreichen wir den im Führer erwähnten Abseilring. Dieser ist an einer etwas unlogischen Stelle, denn man kann problemlos in steilem Schnee abklettern. Einen "Chimney-Gully", wie im snow, ice & mixed erwähnt, finden wir nicht. Jedenfalls traversiert man wieder auf der Talèfre-Seite, um in eine Region von Geröll und Platten zu gelangen. Diese klettert man leicht ab, um in ein weiteres Pässchen zu gelangen, wo man nach Süden abseilen kann. Jetzt erreicht man die "secondary ridge":
Jetzt endlich wird das Gelände markant einfacher. Man steigt jetzt in brüchigem Fels auf der im obigen Bild linken Flanke nach hinten runter über Bändern, das heisst, man steigt nicht grad runter, sondern traversiert immer leicht nach rechts. Steinmänner helfen bei der Orientierung. Irgendwann wird das Gelände wieder etwas steiler. Dies ist der Moment, nicht mehr weiter nach rechts zu gehen, sondern über steilere Platten nach unten (Abseilstellen). Mit dreimaligem Abseilen erreichen wir schlussendlich den Bergschrund. Es ist mittlerweile neun Uhr, und wir spüren beide die stundenlange Konzentration.
Immerhin, der Bergschrund ist zwar eindrücklich, aber letztendlich trivial. Im weichem Schnee trotten wir zur Couvercle-Hütte, wo wir um halb zehn eintreffen, gerade noch ohne die Stirnlampen gebraucht zu haben. Was für ein Timing! Und selten hat der Liter Bier so gut geschmeckt! 

Facts:
Aiguille Verte, Grands-Montets-Grat / Moine-Grat, S, IV, 5a, 60°.

Eine Überschreitung der Superlative am vielleicht schwierigsten Viertausender der Alpen. Am Grands-Montets-Grat nach oben stetig schwieriger werdende Kletterei in zuletzt genialem Fels. An der Gipfelkalotte der Verte eindrückliche Gletscherszenerie. Der Abstieg über den Moine-Grat ist dann eine Hochtour für sich. Wilde Firnstellen und ebenfalls sehr guter, anspruchsvoller Fels erfordern stetige Konzentration, ohne aber ganz grosse Schwierigkeiten zu bieten. Als Faustregel gilt, sich IMMER auf der Talèfre-Seite zu halten und stur dem Grat zu folgen.
Material: Friends bis Nr. 1 und Keile, genügend Zackenschlingen, evtl. zweiter Pickel für das Couloir (ich habe ein Steileisgerät und ein Alupickel dabeigehabt und war durchaus froh darum).
Strategie: Eine schnelle Seilschaft kann die Tour durchaus mit der ersten Bahn ohne Biwak durchziehen. Man muss sich allerdings bewusst sein, dass gerade im unteren Teil des Moine-Grats der Abstieg bei Dunkelheit fast unmöglich zu finden ist. Deshalb lohnt es sich wohl, auf alle Fälle Material für ein Notbiwak (Daunenjacke, Kocher und kleinen Topf) mitzutragen.

Topo vom Grands-Montets-Grat: