Sonntag, 25. September 2016

Herb-Alpine Grenzerfahrung

Viel zu lange war es ruhig gewesen auf meinem Blog. Es war zwar für mich ein ereignisreicher Sommer, der allerdings primär am Wickeltisch oder im Büro stattfand. Welcome to reality! Jedenfalls war bei mir die Freude riesig, als es doch noch Ende September für ein Wochenende mit Peter geklappt hat. Dass es bei einer Tour mit Peter nicht im Plaisir-Bereich bleiben würde, war per se klar. Im Gegenteil, so richtig abenteuerlich sollte es werden. Und zwar mit einem Gruselklassiker der 1. Liga - der Seth Abderhalden Gedenkführe an der Drusenfluh. Zu Recht relativ unbekannt - auf dem Internet findet man nur ganz wenige Infos, der denkwürdige Blog auf rocksports.de lässt sich leider nicht mehr finden. Klar ist allerdings, dass es hier schon deutlich ernsthafter abgeht als zum Beispiel an den Niedermann-Routen am Furka.
Anfahrt am Freitagabend, dann Übernachten im gemütlichen Kletterhüttli auf dem Grüscher Älpli. Der Wecker wird auf fünf Uhr gestellt, schliesslich ist es bei einem derartigen Unternehmen von Vorteil, etwas 'spatzig' zu haben. Nach guten anderthalb Stunden Zustieg stehen wir unter der eindrücklichen Riesenwand des grossen Drusenturms. Die Linie ist klar gegeben: Eine Serie von Kaminen zieht sich wie mit dem Lineal gezogen durch die Wand. Über ein Geröllkegel und eine kurze Steilstufe geht es zum Einstieg, der durch ein paar halb verweste Seilstücke 'markiert' ist. 
Mit etwas flauem Magen steige ich kurz nach halb acht in die erste Seillänge ein. Die ist mit IV+ bewertet und grundsätzlich gutmütig, wie immer im Rätikon gilt auch hier sauber auf die sloprigen Tritte zu stehen. Der Stand (wie auch fast sämtliche anderen Stände) bestehen aus drei Schlaghaken - von Beat Kammerlander und Gefährten vorbildlich 'restauriert'. Die zweite Seillänge checkt bei III ein und ist auch nicht wirklich schwerer. Interessant wird es dann ab der 3. Länge: Zuerst ein ausgewaschenes Couloir hoch, dann rechts über leichte Felsen hoch bis auf eine Schulter. Es folgt eine recht giftige Wandstelle mit rostigem Normalhaken, wo nur saubere Fussarbeit weiterhilft und die wenig mit V- zu tun hat: So spielt hier die Musik. Ich verwende übrigens in diesem Blog die alte UIAA-Skala, um zu betonen, dass hier nicht mit modernen Sportkletter-Massstäben gerechnet wird. Die 4. Länge ist mit V+ bewertet - die erste Wandstelle ist allerdings ein knallharter Boulder an kleinen Griffchen, eigentlich tolle, moderne Kletterei, unsereins würde wohl eher 6a veranschlagen, nur eben, wir sind hier im klassischen Gelände.
Es folgt eine zur Abwechslung mal mit VI eher gutmütig bewertete Länge, die ich vorsteige: Über schöne Platten, garniert mit etwas Gras, geht es in schöner Kletterei bis unter die sich eindrücklich aufsteilende Wand. 
Und schon erspäht das Auge den markanten 'Moosbalkon', eine der gruseligsten Kletterstellen vielleicht im ganzen Rätikon. Peter die Vorsteigermaschine nimmt die Länge in Angriff. Zuerst kommt eine kurze, giftige Verschneidung in bereits nur noch 'mässigen' Fels. Dann wechselt Peter in den grossen Kamin, der mit Moos und Gras 'garniert' ist. Als Peter nach über einer Stunde das erlösende 'Stand' ruft, ist mir klar, dass hier Vollgas gefordert wird.
Und ja, es ist wirklich ein wilder Ritt, bei dem mir selbst im Nachstieg angst und bange wird. Senkrechte Kaminkletterei an flechtigem Fels, dann irgendwann ein guter Henkel, der zudem auch noch fest ist. Von hier aus dann der berühmte Griff ins feuchte Moos - ob das wohl hält? Wenn nicht, dann vielleicht einen der teils älteren, teils neueren Normalhaken? Man möchte es lieber nicht testen. Ich wälze mich auf den Grasbalkon. Es folgt dann ein weiterer Stemmkamin, nochmals steil, nochmals anspruchsvoll. Am Stand dann endlich die langersehnte Sonne. Die Bewertung VI aus dem Führer ist natürlich ein Witz, frei geklettert wäre es wohl so im Bereich 6b, wobei es allerdings auch wirklich gar nichts mit einer Sportkletter-6b zu tun hat.
Ich kann mich glücklich wähnen, denn 'meine' Seillänge, mit V+ bewertet, ist wiederum deutlich gäbiger zu klettern. Ein toller Schrubber-Kamin, recht gut mobil absicherbar, gefolgt von einem etwas botanischen Riss: Halt das übliche Menü, was uns Seth Abderhalden und Gefährten hier servieren.
So richtig, richtig bösartig wird es dann auf der nächsten Seillänge: Mit VI+ bewertet nicht nur rein nominell die Schlüssellänge, sondern auch gefühlt. Das liegt allerdings weniger an der reinen Kletterschwierigkeit, sondern an der Tatsache, dass der Fels hier ausserordentlich brüchig ist. Es ist schon im Nachstieg total psycho, sich im senkrechten, ausgesetzten Gelände an kleine Griffe zu klammern, von denen jeder zweite bei der ersten Berührung den Weg nach unten nimmt. Mein riesengrosser Respekt vor Peters Vorstieg! Hier im Bild die Seillänge, man erahnt nur die Steilheit des Gemäuers.
Eine kurze, mit III bewertete Seillänge führt schon gleich an den nächsten Prüfstein: Ein überhängender Schulterriss, gefolgt von einem wilden, senkrechten Kamin. 
Zum Glück ist hier der Fels wieder recht gut, und die traditionelle Kletterei macht wirklich Spass. Stemmen, drücken, schrubben, den Rucksack ziehe ich an einer Schlinge nach. Am Ausstieg kann übrigens ein 6er-Friend gute Dienste leisten, auch wenn hier die Kletterei nicht mehr schwer ist.
Laut Topo folgen jetzt zwei Längen im II. und III. Grad. Etwas entspannen, Kräfte aufbauen - weit gefehlt! Die erste Länge geht durch ein unendlich brüchiges Couloir, wo die Schwierigkeit darin besteht, den am Stand sichernden Partner nicht zu erschlagen. Stand in einer Höhle an grossen Friends. Jetzt wird auch klar, warum das Topo hier vorschlägt, dass der Vorsteiger oben rum, der Nachsteiger unten rum gehen soll. Der Weg oben rum geht über schmierigen und unendlich brüchigen Fels, man klettert praktisch am Sturzlimit. Immerhin kann man gleich zu Beginn der schwersten Stelle einen Friend setzen, danach gibts aber keine Sicherungsmöglichkeit mehr. Der Nachstieg hier wäre deshalb harakiri. Unten rum führt der Weg über eine brüchige und völlig von Moos bewachsten Wandstufe. Zwar nur ein IIIer, aber man kann das Ding praktisch kaum frei klettern (geschweige denn im Vorstieg), derart glitschig ist der Fels. Mit etwas Seilzug von oben geht es dann doch. Am nächsten Stand befindet sich ein Wandbuch, daraus wird ersichtlich, dass die Route in den letzten Jahren doch 2-3 Begehungen pro Jahr verbuchen durfte.
Die nächste Länge geht wiederum an mich: Zuerst ein steiler Riss, mit VI bewertet und sicher nicht einfacher, aber immerhin in ordentlichem Fels. Danach folgt eine kurze Plattenstelle, zuletzt eine wirklich schöne, relativ leichte Rissverschneidung, wo man die ganz grossen Friends einsetzen darf.
Nochmals etwas schärfer, wenn auch 'nur' mit V+ bewertet, geht es auf der zweitletzten Länge zu: Eine senkrechte Rissverschneidung, wo nochmals das gesamte Repertoire an traditionellen Techniken angewendet werden darf, und das für uns Hallenbabies gefühlt eher bei 6a+ liegt. 
Jetzt rückt das Ende in Reichweite! Still one to go. Und was für eine Länge! Das ganz grosse Kino wird hier aufgefahren. Man betritt ein Höhlensystem, durch das man sich unter Anwendungen von Stemmtechniken hochschrubbt. Ein kalter Wind weht einem um die Ohren, und der nasskalte Fels lässt einem die Hände kalt werden. Nichtsdestrotrotz, irgendwie geniesse ich es, einfach weil ich so etwas noch nie erlebt habe.
Dann der Ausstieg in die Sonne, was für eine Erlösung! Als wir uns die Hände schütteln, das Rätikon zu Füssen, können wir es noch nicht ganz fassen, was wir soeben erlebt haben. Es ist mittlerweile vier Uhr, wir haben etwas über acht Stunden für die Route gebraucht. 
Beim Abstieg und der langen Wanderung zurück zum Kletterhüttli haben wir genug Zeit, die Tour nochmals Revue passieren zu lassen. Es war ein grossartiges Erlebnis, ein richtiges Abenteuer, auch wenn die Kletterei kaum den Geschmack der Massen treffen dürfte.


Facts
Grossen Drusenturm, Seth Abderhalden Gedenkführe, VI+ (A2), 15 SL

Eine ganz grosse Felsführe, vollständig traditionell abgesichert (keine Bohrhaken), ausserordentlich wilde Stellen, teils unglaublich brüchig, teils aber auch guter Fels. Keine Route für Jedermann - im Gegenteil, geschätze 99 von 100 Kletterer würden die Route vom ersten Meter an hassen! Laut Topo ist die Route maximal 6a, gefühlt allerdings eher so im Bereich 6b. Es lohnt sich, eine grosse klettertechnische Reserve zu haben und insbesondere eine solide Riss- und Kamintechnik im Repertoire zu haben. Die Schlüsselstellen sind der Moosüberhang in der 6. und der brüchige Riss in der 8. Länge. Das Topo auf raetikon.ch (inklusive textueller Beschreibung) ist empfehlenswert, das aus dem neuen Bündnerführer ist als Backup ebenfalls ok. Auch gut ist das Topo aus dem alten Rätikonführer vom SAC. 
Die Route wurde von Voralberger Kletterer um Beat Kammerlander restauriert, sprich, die Stände mit neuen Schlaghaken ausgerüstet und teils alte Schlaghaken durch neue ersetzt. Mit anderen Worten: Es ist eine richtige Trad-Route! Das muss unbedingt auch so bleiben, denn solches Abenteuergelände gibt es leider viel zu wenig.

Material: Ein vollständiges Set Friends und Keile, bei den Friends unbedingt bis Bd Cams bis zum 4er, mittlere vielleicht sogar doppelt. Der 5er und den 6er brauchts nicht zwingend, vor allem nicht bei einem routinierten Vorsteiger (und der ist sowieso zwingend!) - schaden kann zumindest einer der beiden aber auch nicht. Hammer und Haken hatten wir nicht dabei, könnte aber auch nicht schaden, vor allem wenn man den Moosbalkon techen will. Wir hatten 60er Halbseile dabei, das nächste Mal würden wir aber eher die 50er nehmen. 

Am nächsten Tag gab's dann noch die Via Andres an der 7. Kirchlispitze. Ebenfalls praktisch trad, ebenfalls anspruchsvoll und empfehlenswert, wenn auch vom Charakter her völlig anders. Für den Moment spare ich mir die genauere Beschreibung, vielleicht habe ich mal noch Zeit dafür in den nächsten Tagen.