Dienstag, 9. September 2014

A walk on the wild side

Der grosse Kessel auf der Nordwestseite des Mont Blanc beheimatet eine der wildesten Gletscherszenerien der Alpen. Im Juni konnte ich anlässlich der Skitour auf den Mont Blanc diese Ecke des Massivs kennenlernen. Was nur Wenige wissen, ist, dass es ebenfalls ein Gully zu entdecken gibt, der quasi auf Tuchfühlung mit den gigantischen Serac-Strömen geht. Es zieht sich durch die vom Tal aus gut sichtbare NW-Wand des Tacul, und wurde von der namensgebenden Seilschaft Bodin-Afanasieff erstbegangen. Obschon gut sichtbar auf dem Titelbild des Buches "Snow, Ice & Mixed II" platziert, gilt das Gully als Geheimtipp: Zwar technisch nicht sonderlich schwierig, ist es, wenn man den Zustieg einrechnet, eine recht komplexe und anspruchsvolle Hochtour, nicht zu vergleichen mit den 'Sportkletter-Gullies' auf der Ostseite. 
Nach dem kalten und feuchten Sommer vermuten wir gute Verhältnisse, und so wagen Thomas und ich uns zu einer eher untypischen Jahreszeit ins eisige Gefilde. Um den besten Output aus dem Wochenende zu bekommen, fahren wir am Samstag mit dem ersten Zug nach Cham und gleich hoch zur Midi. Ziel für den Samstag ist die Rébuffat in der Midi Südwand, ein Über-Klassiker mit entsprechendem Auflauf. Als wir um halb zwei Uhr Nachmittags einsteigen, brauchen wir aber keine Minute zu warten. Glücklich wähnt, wer die letzte Bahn nicht erwischen muss!
Eine genaue Beschreibung der Route spare ich mir, es gibt Dutzende von guten Berichten, unter anderem der von meinem Bergkollegen Marcel. Jedenfalls geht uns beiden die wirklich wunderschöne Kletterei gut von der Hand, nach etwas über drei Stunden haben wir den Gipfel bereits erreicht.
Da wir ja in die Cosmiques-Hütte wollen, seilen wir über die Route respektive über eine Linie rechts davon ab. Geht grundsätzlich ok, wobei ein etwas mühsamer Pendler notwendig ist, um die Einstiegsterrasse zu erreichen. Wäre wohl besser, bereits im oberen Teil über die am weitesten rechts liegende Route (Contamine?) abzuseilen. 

Pünktlich aufs Abendessen erreichen wir die Cosmiques-Hütte. Beim Einchecken folgt dann die kalte Dusche: Auf Nachfrage meint die Hüttenwartin, dass die Verhältnisse im anvisierten Gully wohl schlecht seien, "c'est sec". Was tun? Ich hätte wahrscheinlich den Schwanz eingezogen und eine Felstour anvisiert, Thomas hingegen favorisiert weiterhin das Gully. Schlussendlich überredet er mich, und mit dem sehr selten begangenen NW-Grat auf den Tacul wäre ja auch eine gute Fallback-Option vorhanden. Hier der Tacul im Mondlicht abends um neun Uhr:
Nach etwas unruhiger Nacht geht es um viertel vor sechs los, gerade genug spät, dass wir in der Tacul-Traverse bereits Tageslicht hätten. Im Nachhinein wären wir aber noch besser eine Stunde früher losgegangen. Jedenfalls steigen wir bis auf etwa 3800m hoch (also deutlich über den Bergschrund im oberen Bild), um dann nach rechts zu queren. Der Schnee ist hart, das Gelände erlaubt keine Fehler, und die Querung entsprechend unangenehm. Jetzt wird auch klar, warum das Gully so selten gemacht wird: Herrscht auch nur ein bisschen Lawinengefahr, ist das definitiv kein Ort zum Sein!
Der heikelste Teil dabei ist, von der mittleren 'Terrasse' aus zum Pässchen zu gelangen. Dabei hat man die Wahl, entweder einen unbekannten und beliebig unangenehmen Bergschrund im Abstieg zu überwinden, oder in 50° steilem Gelände etwa 100 Meter ganz rechts entlang vom NW-Grat abzusteigen. Wir wählen die zweite Option - geht zwar soweit ok, erfordert aber weiterhin höchste Konzentration. Schlussendlich stehen wir in besagtem Pässchen und können zum ersten Mal einen Blick auf das Gully erhaschen. Gross ist die Erleichterung, als sich da tatsächlich eine weisse Linie hochzieht!
Über schuttiges, steiles Gelände steigen wir ab, seilen zuletzt noch 20 Meter bis auf das Firnfeld ab. Das Ambiente ist wild: Gigantische Seracs, wohin das Auge blickt. Man wähnt sich am Ende der Welt, und ein Rückzug wäre zwar nicht unmöglich, aber auf alle Fälle eine nicht-triviale Hochtour!
Hier erreicht Thomas den Einstieg, unmittelbar am Bergschrund unter der brüchigen Einstiegswand. Es ist mittlerweile neun Uhr, wir haben also über drei Stunden gebraucht bis hierher. Denke, bei guten Schneeverhältnissen (weicher Schnee) könnte man eine gute halbe Stunde sparen, aber es zieht sich wirklich!
Cams und Keile sortiert, Seile eingebunden, los gehts! Nach wenigen Metern aber stelle ich mit Schrecken fest, dass mir den Monozack im Geröllabstieg abgebrochen ist. So ein Shit! Nun ja, dann muss halt Thomas den Vorstieg in den schwierigen Längen übernehmen, im Nachstieg traue ich es mir zu, quasi nur 'mit einem Fuss' zu klettern. 
Die im Führer erwähnte M3-Länge ist jetzt, im Spätsommer, einfach ein 'gewöhnlicher' alpiner 3er und bereitet keine Kopfzerbrechen. Bald stehen wir in der Eisrinne, die hier zuunterst mit hartem Firn gefüllt ist, und nur kurze Aufschwünge in weichem Eis bietet. Wir gehen parallel am langen Seil und kommen so gut voran. Nach einer Stunde erreichen wir bereits den Sockel der Aiguille Sassure. 
Hier wird das Gelände minim steiler, zudem wird es deutlich eisiger. Deshalb, und auch weil die Kletterei mit nur einem Monozack doch etwas wackliger ist, sichern wir hier von Stand zu Stand, was uns doch etwas bremst.
Bald erreichen wir die Crux des Gullies, bestehend aus zwei Aufschwüngen mit je etwa 80° steilem Eis. Das Eis ist aber gut strukturiert, und lässt sich auch mit 'reduziertem Material' gut klettern.
Hier Thomas im zweiten Aufschwung, schöne Eiskletterei - und das im Spätsommer!
Danach legt sich das Gelände deutlich zurück und wir gehen wiederum parallel. Ein paar kurze eisige Passagen, und wenig später erreichen wir die Firnschulter des Taculs. Mittlerweile ist die Zeit doch schon fortgeschritten, halb drei zeigt die Uhr. Wir haben somit fünfeinhalb Stunden für das Gully gebraucht, sicher keine neue Rekordzeit, aber angesichts der leicht erschwerten Umständen verständlich.
Da die normale Abstiegsspur vom Tacul dieses Jahr ganz oben am Gipfel verläuft, müssten wir jetzt nochmals etwa 100 Höhenmeter über die Schulter hochlaufen. Da wir aber etwas unter Druck stehen, die letzte Bahn zu erwischen, queren wir horizontal in die N-Flanke raus. Es ist nochmals steil, so um die 45°, aber der Schnee ist hier oben weicher. 
Nach dieser letzten 'Nerven-Passage' erreichen wir aber bald flächeres Gelände, und können horizontal unter der obersten Serac-Passage in die normale Abstiegsspur rüberqueren. Und dann ist es reine Form- respektive Kopfsache, vom Tacul runter und zur Midi hochzulaufen.

Facts:
Mont Blanc du Tacul, "Bodin-Afanasieff"-Gully, S+, IV, 80°

Abgelegene Eisrinne in einer wilden Ecke des Massivs. Das Gully selber ist zwar technisch einfach, aber zusammen mit dem wirklich komplizierten und oftmals heiklen Zustiegs ein nicht zu unterschätzendes Unternehmen - kaum zu vergleichen mit den Gullies auf der Ostseite!

Material: 8 Schrauben, Zackenschlingen, Set Cams und Keile. Theoretisch reicht ein Einfachseil, da man oben aussteigt. Ein Rückzug wäre schwierig, könnte aber entlang vom NW-Grat bewerkstelligt werden (ZS-Tour).