Nur zwei Jahre nach der Erstbegehung des Couturier-Couloirs an der Verte (s. mein letzter Blog-Eintrag) hat dieselbe Seilschaft, Armand Charlet und Marcel Couturier, das markante NW-Couloir am Mont Dolent erstbegangen. Dieser mittelschwere Gully erlaubt eine bergsteigerisch interessante Überschreitung des Mont Dolent im Dreiländereck Schweiz-Italien-Frankreich. Diese Tour ist denn auch das Ziel dieses Chamonix-Ausfluges von Thomas und mir.
Wir fahren am Mittwochmorgen mit der ersten Zugverbindung nach Argentière, dann hoch mit der Seilbahn nach Grands Montets. Von Frühling ist hier noch nicht viel zu spüren, es hat recht viel Skifahrer-Volk. Skis anschnallen und kurze Abfahrt bis zum Einstieg der Pépite. Dieser kurze Gully eignet sich ideal zum Angewöhnen und als Halbtagestour vor einem nachmittäglichen Hüttenaufstieg. Wir wechseln von den Skis auf die Steigeisen - los gehts! Dank einer guten Spur (selber spuren wäre im tiefen Schnee recht mühsam gewesen) gelangen wir in wenigen Minuten an den Beginn des eigentlichen Gullies - einem anregenden Gemisch aus hartem Schnee, etwas Eis und Felszacken. Die erste Länge ist schon recht cool, die Kletterei wirklich mixed - oftmals kratzt man im Fels und steht im Styroporschnee, oder umgekehrt. Die Schwierigkeiten sind überschaubar und bewegen sich so im Bereich M4.
Deutlich verschärfter ist die zweite Länge, welche durch die markante Verschneidung hochführt. An mehreren Stellen steht geschrieben, dass die Verschneidung dry ist. Dies kann ich nicht bestätigen, ein etwa 15cm breiter Streifen aus Eis bedeckt den Grund der Verschneidung, und erlaubt eine interessante, recht technische Mixedkletterei.
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Der Crux-Move, ein hoher Antreter in der glatten Verschneidung, die Pickel an wackligen Hooks im dünnen Eis, getraue ich mich erst zu machen, als ich etwas vom Eis abräume und darunter einen Cam versenken kann. Von der Schwierigkeit her bewegt man sich hier wohl im Bereich eines unteren M5. Danach erreicht man ein Schneeband und die Kletterei wird deutlich einfacher.
Es folgt eine weitere interessante, aber etwas leichtere Länge entlang von Schneestreifen und über kurze Felsstufen, so im Bereich M3. Die letzte Seillänge, die wir parallel klettern, führt über leichten Schnee auf den Grat. Vom Ausstieg stapfen wir in wenigen Minuten zurück zum Col de Montets und der Piste entlang zum Skidepot. Und von hier folgt eine coole Abfahrt auf den Argentière-Gletscher, und weiter hoch zum Refuge Argentière. Beim Wechsel auf die Felle haben wir noch Zeit, das morgendliche Ziel zu begutachten. Die Vorfreude wächst!
Facts:
Petite Aiguille Verte, "Pépite", M5-, 4 SL
Schöner, kurzer Gully in relativ harmloser Umgebung, der interessante Mixed-Kletterei bietet. Eine ideale Angewöhnungstour für grössere Sachen.
Material: Reduziertes Set Cams und Keile, insbesondere die mittleren Cams sind hilfreich. Dazu vielleicht 1-2 kurze Schrauben. Die Route ist nicht zum Abseilen eingerichtet.
Der Wecker läutet um 3 Uhr, und um viertel vor 4 brechen wir auf. Kurz vor sechs Uhr - gerade rechtzeitig zum Tagesanbruch - erreichen wir den Bergschrund unter der mächtigen NW-Wand des Mont Dolents. Dieses Mal dürfen die Skis nicht am Bergschrund bleiben, sondern müssen an den Rucksack! Schliesslich ist ja der Plan, vom Mont Dolent nach Osten abzufahren.
Der Bergschrund ist nicht ganz ohne, eine fragil aussehende Brücke, gefolgt von etwas Zuckerschnee-Gewühle. Aber schliesslich ist diese erste Prüfung gemeistert, und Thomas greift die erste Eis-Länge an. Wir wählen hier den linken Arm der Route, in gewissen Führern als 'Gully Variations' bezeichnet. Es scheint uns die logische Linie zu sein.
Wir sind beide positiv überrascht, wie gut die Verhältnisse hier im Gully sind. Es hat praktisch überall genug Eis zum Schrauben, das Eis ist weich und ideal zu pickeln.
Insgesamt sind etwa vier Seillängen im Gully zu klettern, wobei die Steilheit meistens im Bereich 65° ist, mit kürzeren Abschnitten bis 80°.
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Danach legt sich der Gully etwas zurück, es folgt ein Gemisch aus Schneefeldern und kürzeren Eispassagen. Bald einmal erreichen wir das markante Schneeband, welches ein Ausqueren in die Nordflanke des Mont Dolents erlauben würde. Allerdings liegt viel Triebschnee in den steilen Hängen und die Traverse über den Felsbändern scheint uns mühsam und heikel. So bleiben wir im Couloir. Allerdings verschlechtern sich hier die Verhältnisse dramatisch: Wie schon erwähnt liegt viel Schnee in den Hängen, dieser ist aber pulvrig weich und liegt auf brüchigen Felsplatten. Ich eiere über ein kurzer Felsriegel (etwa M4), um so eine längere Tiefschneetraverse zu vermeiden. Stände sind keine mehr zu sehen (respektive sie sind nicht erreichbar), also behelfe ich mir mit Klemmkeilen.
Es folgt eine noch unangenehmere Länge, zwar technisch nicht schwer, aber ein äusserst mühsames Gegurke über schneebedeckte Platten, die Hooks können unter dem Schnee nur 'gefühlt' werden, und Zwischensicherungen sind praktisch inexistent. Endlich finde ich einen alten Schlaghaken rechts unter einer markanten Felsbastion. Bei guten Verhältnissen würde man wohl in wenigen Minuten hochsteigen, wir brauchen weit über zwei Stunden für diese etwa drei Seillängen.
Eigentlich war der Plan, dass wir jetzt durch ein Schneecouloir links hochsteigen, welches direkt auf den Gipfel des Dolent führen würde. Aber wir sind nervlich bereits ziemlich angekratzt, und die Spur unserer Vorgänger geht nach rechts zurück ins ursprüngliche Charlet-Couturier-Couloir. Und so wählen wir den 'sicheren' Weg und folgen der Spur. Das Couloir selber ist blank respektive nur mit einer dünnen Pulverschneeschicht bedeckt, bald brennen die Waden - aber immerhin bieten hier die Eisschrauben wieder eine solide Lebensversicherung! Die letzten paar Meter in die Scharte sind nochmals im Schnee, der hier zum Glück ein Tick kompakter ist und deshalb bequemeres Vorwärtskommen erlaubt. Ziemlich genau um 12 Uhr, nach knappen sechs Stunden, toppen wir in die Scharte aus - erleichtert, dass die technischen Schwierigkeiten jetzt hinter uns liegen.
Wie geht es jetzt weiter? Der Master-Plan, nämlich weiter über den Grat auf den Gipfel des Mont Dolents zu gelangen, geben wir beim Anblick der steilen, brüchigen und von viel weichen Schnee bedeckten Felsen ohne grosse Diskussion auf.
Die übliche Variante ist, dass man über die etwa 50° steile Südflanke auf den Pré de Bard-Gletscher absteigen. Die Südflanke ist etwa 150m lang und lässt sich problemlos rückwärts absteigen. Dann können wir endlich zurück auf die Skis wechseln. Tolles Ambiente in dieser einsamen Ecke hoch über dem Nebel, der das Aostatal bedeckt.
Die Abfahrt geht zumindest im oberen Teil plus minus problemlos, wobei der Schnee ein Tick zu weich ist für unsere kurzen Leichtskis. Mühsam wird es, als wir in die Nebeldecke stechen. White-out, null Orientierungsmöglichkeit. Wir folgen einer alten Skispur, die wir aber kurz vor dem Petit Col Ferret verlieren. Wir sind etwa 50 Meter zu tief - Felle an, GPS, Kompass hervor - halt das ganze Programm. Nach einer langen Tour, gedanklich bereits in der Beiz, ist dies ein moralisch nicht ganz einfacher Moment. Zum Glück aber erreichen wir den Pass schon nach wenigen Minuten Aufstieg, und bald sind wir zurück in der Sonne auf der Walliser Seite. In zuletzt recht hübsch fahrbahrem Sulz erreichen wir La Fouly und das wohlverdiente Bier. Eine weitere grosse Eistour im Sack, wenn auch mit dem kleinen Wermutstropfen, dass wir den Gipfel nicht erreicht haben.
Facts:
Mont Dolent, "Charlet-Couturier", SS-, III, Wi4, M2, 600m.
Bei guten Verhältnissen wohl eine problemlose Eistour, die eine elegante Überschreitung des Mont Dolent erlaubt. Bei den aktuellen Verhältnissen ist der obere Teil heikel und zeitraubend. Was mir im Voraus nicht bewusst war, ist, dass der Gipfel eigentlich nur erreichbar ist, wenn man nach links in die Nordflanke ausquert und über diese auf den Gipfel steigt (grüne Linie, Blog siehe hier). Diese Variante erfordert aber sehr sichere Schneeverhältnisse. Die zweite Variante (lila), nämlich dem linken Couloir folgend auf den Gipfel, wird wohl selten gemacht und erfordert ebenfalls gute Schneeverhältnisse (Trittfirn). Die dritte Variante (rot), nämlich dem rechten Couloir folgend in die Scharte, ist der am meisten gewählte Weg. Allerdings ist der Gipfel von der Scharte aus wohl kaum mit vernünftigem Aufwand erreichbar (allenfalls könnte man etwa 50hm absteigen und dann über ein sehr steiles SW-exponiertes Couloir auf den Gipfel steigen). Bei den aktuell herrschenden Verhältnissen haben wir wohl die einzige vernünftige Variante gewählt.
Material: Eisschrauben (13er und 16er), ein reduziertes Set Keile und Friends (insbesondere kleine Nummern), allenfalls Schlaghaken und Hammer. Die Stände sind auf 60m optimiert, mit kürzeren Seilen kann man nicht abseilen. Macht man die Überschreitung, reicht eigentlich ein 50m Einfachseil.